Es gibt sie noch – die weisen Gerichtsentscheidungen. Diese hier hat mich besonders gefreut: Ich berichtete noch im April über ein Verfahren, bei dem es uns besonders schwer gemacht wurde, die Berufung einzulegen. Angeklagt waren viele kleine Ladendiebstähle eines süchtigen Mandanten. Klassische Beschaffungskriminalität. Der Mandant hatte den festen Willen, eine (freiwillige) Drogentherapie zu beginnen, was in diesem Fall generell möglich gewesen wäre.
Nun hat die Staatsanwaltschaft zwei dieser Diebstähle völlig zu unrecht als „räuberische Diebstähle“ angeklagt. Zu meinem völligen Entsetzen hat das Gericht das bestätigt und den Mandanten heftig verurteilt: Zweimal räuberischer Diebstahl, fünfmal normaler Diebstahl, das gab in der Summe knapp über zwei Jahre und -viel schlimmer- die Zwangseinweisung nach § 64 StGB in eine Entziehungsanstalt. Selbst der Staatsanwalt vor Ort forderte eine mildere Strafe (wenngleich auch die Zwangseinweisung).
Ich hatte Zweifel wegen der Berufung. Das Urteil war zwar grottenfalsch, aber der Knackpunkt war der: Bekomme ich in der Berufung die räuberischen Diebstähle weg, aber bleibt die Zwangseinweisung, dann ist nichts gewonnen. Denn dann wird die Strafhöhe zwar reduziert. Aber die Therapie kann erst später, nämlich erst nach der Berufung, beginnen. Also endet sie auch später und der Mandant kommt später frei, nämlich erst, wenn ein Arzt sich die Prognose zutraut, dass die Therapie erfolgreich war. Also Hände gebunden und ein Risiko für den Mandanten?
Wir haben erst lange beraten und vorsorglich Berufung eingelegt. Das Urteil war eben schlicht ungerecht. Dann kam aber völlig überraschend ein komischer Brief: Die Staatsanwaltschaft hat auch Berufung eingelegt. Total irre. Denn sie hat erstens sogar mehr bekommen als beantragt und zweitens waren diese räuberischen Diebstähle entgegen allem juristischen Verstand auch im Urteil. Ich habe bis heute nicht verstanden, was das sollte. Begründet wurde die Berufung damit, dass die Strafen viel zu niedrig seien. Ich tippe, es sollte eine Retourkutsche auf unser Rechtsmittel werden.
Aber dadurch brauchten wir nicht mehr zu zögern: Wenn das Verfahren durch die Staatsanwaltschaft blockiert wird, können wir Vollgas geben. Und das mit mehr als vollem Erfolg: Die Berufungsverhandlung fand schon jetzt statt, keine zwei Monate nach der ersten Instanz. Nochmal wurden alle Zeugen und der Sachverständige angehört. Und diesmal war klar, dass es keine räuberischen Diebstähle gab. Das war allen klar. Im Prinzip sogar der Staatsanwältin, die sich in ihrem Plädoyer drehte und wendete, aber dennoch den räuberischen Diebstahl verteidigte („freilich ein minderschwerer Fall“). Und wie angekündigt wurden noch höhere Strafen gefordert. Knapp unter drei Jahren plus die Zwangseinweisung. Und das Urteil? Kein räuberischer Diebstahl, Strafe unter zwei Jahren, keine Zwangseinweisung. Das war natürlich ein Hammer. Natürlich gerechtfertigt, weil nur Ladendiebstähle, wenngleich sie zahlreich waren, keine schlimmen Taten sind, die eine Einweisung rechtfertigen.
Glück gehabt, würde ich sagen. Wenn ich bedenke, dass und wie wir am Anfang gezögert haben, kann man der Staatsanwaltschaft für ihre seltsame Berufung nur dankbar sein. Dem Mandanten hat diese Entscheidung sicherlich zwei Jahre in Unfreiheit eingespart. Er wird sich nun um eine freiwillige Therapie bemühen und ich drücke ihm alle Daumen, dass diese erfolgreich wird. Ich traue ihm das zu.