Eine alte Rechtskunde-Weisheit lautet: „Ausbruch aus dem Knast ist straflos“. Das hat mein neuer Auszubildender in seiner ersten Berufsschule-Stunde gelernt, ich lernte es damals von Liebling Kreuzberg und selbst zu „Wer wird Millionär?“ hat es diese Frage respektive Antwort schon geschafft.
Ich möchte dennoch dagegen halten. Zwar steht nicht im Strafgesetzbuch, dass ein Ausbruch aus dem Knast bestraft wird. Und es steht auch nirgendwo anders. Trotzdem wird der Ausbrecher fast so wie ein Einbrecher bestraft. Und zwar auch dann, wenn er nicht die Gitterstäbe durchsägt (Sachbeschädigung), einen Wachtmeister zur Seite schiebt (Körperverletzung) oder dem Gefängnisdirektor einen lieben Gruß zurückruft (Beleidigung). Denn spätestens bei der Frage, ob der Inhaftierte nach 2/3 seiner Strafe vorzeitig auf Bewährung entlassen werden kann (im Volksmund: „nach guter Führung“) setzt es die Keule. Jedenfalls dann, wenn er sich wieder in den Knast verirrt. Dann heisst es, „durch das Entweichen aus der Haftanstalt zeigt der Inhaftierte, dass er ein in ihn gesetztes Vertrauen nicht verdient“ und es ist Essig mit einer vorzeitigen Haftentlassung. Der Ausbrecher sitzt im Gegensatz zu einigen seiner Kollegen die gesamte Strafdauer auf seinem Hintern ab. Und wird somit faktisch sehr wohl für sein Ausbrechen bestraft.
Dieses Prozedere gehört zu dem Gebiet des Strafvollstreckungsrechts. Hier werden jenseits von öffentlichen Hauptverhandlungen manchmal etwas undurchsichtige Entscheidungen getroffen. SozialarbeiterInnen, KnastpsychologInnen, JVA-Beamte werden angehört und geben ihren subjektiven Senf zu der Frage ab, ob ein Inhaftierter vorzeitig entlassen werden sollte. Richterin oder Richter hört sich das an und hebt anschließend den Daumen. Oder senkt ihn. Davon hängt dann mal eben die Freiheit von 1/3 der Haftstrafe ab, was manchmal ganz schön viel sein kann.
Besonders ärgerlich sind die Fälle, in denen sich die Inhaftierten für unschuldig und Opfer eines Fehlurteils halten und es wagen, an dieser Auffassung während der Haft festzuhalten, obwohl ein Gericht das Gegenteil festgestellt haben will. Für die Justiz ist mit einem rechtskräftigen Urteil die Wahrheit in Stein gemeißelt – für den sich unschuldig verurteilt Fühlenden nicht. Das kann in der Regel drei Gründe haben: (1) Der Inhaftierte leugnet die Tat bewusst und lügt, (2) Der Inhaftierte verdrängt seine Tat aus Scham und macht sich selbst was vor, (3) der Inhaftierte ist tatsächlich unschuldig. Letzteres wird jedoch für abwegig gehalten, so dass es in den psychologischen Stellungnahmen stets heisst, man habe sich ungenügend mit der eigenen Tat auseinandergesetzt und sei somit nicht fähig, schon quasi auf Probe entlassen zu werden. Selbst das Schweigen in der Haft, was bekanntlich gutes Recht ist, wird überwiegend negativ ausgelegt, was meist dazu führt, bis zur Endstrafe abzusitzen. Man wagt sich gar nicht in die Lage eines Menschen zu versetzen, der tatsächlich unschuldig verurteilt worden ist – dann nämlich geht der Albtraum bei der sogenannten „2/3-Entscheidung“ in die zweite Runde.
Aber auch bei Inhaftierten, die nicht über ihre Tat sprechen möchten oder können – bestraft worden sind sie für das, was sie getan haben. Dann einen Strick daraus zu drehen, dass jemand nicht, auch nicht im Nachhinein seine Tat gesteht, kommt einer zweiten Bestrafung gleich. Ob jemand vorzeitig, quasi auf Probe zu entlassen ist, richtet sich allein nach § 57 StGB. Dort steht wörtlich nichts davon, dass jemand reumütig zu sein hat. Es muss nur „verantwortet werden können“, dass von der Person vermutlich keine weiteren Straftaten ausgehen. Klar mag es ein Indiz sein, wenn jemand seine Tat auch im Knast noch hartnäckig leugnet. Aber ein schwaches Indiz. Viel wichtiger für eine Beurteilung der Frage dürfte vielmehr sein, wie gefestigt die Persönlichkeit des Inhaftierten inzwischen ist. Dazu wiederum bräuchte es wiederum geeignete Beurteiler. Und daran fehlt es im täglichen Knastbetrieb – ebenso wie genügend psychologische oder pädagogische Kräfte, die überhaupt in der Lage sind, sich ernsthaft und mit Zeit sowie Muße mit den Persönlichkeiten der Inhaftierten auseinanderzusetzen.
Ich fürchte nur, daran wird sich so rasch nichts ändern.