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Der Mittelfinger der alten Dame

By 3. Dezember 2012Allgemein

Polizeieinsatz bei der Familie Rentner. Anlass war der Enkel, der sich in Obhut der Großeltern befand und nach dem Willen des Jugendamts lieber in einer Pflegefamilie leben sollte. Daher wurde das Kind mit Hilfe von Polizei und Jugendamt abgeholt. An jenem Tag war auch die leibliche Mutter des Kindes zu Besuch bei Familie Rentner. Der Stress war vorprogrammiert.

Und natürlich eskalierte die Situation zumindest in emotionaler Hinsicht. Durchaus nachvollziehbar, wie ich finde. Das Kind wurde also tatsächlich aus der Wohnung der Großeltern geholt, es gab viele Tränen und Worte. Für die Polizei war der Einsatz nach getaner Arbeit jedoch noch nicht beendet, stattdessen setzte man sich an den Schreibtisch und zeigte die Großmutter an – wegen Beleidigung. Sie soll bei der Abfahrt der Polizei von der Straße aus den Polizisten die Mittelfingergeste gezeigt haben.

Hat sie nicht. Sagt sie, und wenn, dann sei sie mißverstanden worden. Schließlich habe sie nur ihrer Tochter und dem Enkelkind winken wollen, welche sich in dem abfahrenden Polizeiauto befunden hätten. Die in den Rückspiegel schauenden Polizisten fanden das jedoch schlimm und sahen sich aufgrund ihrer Ehrverletzung gezwungen, Strafantrag zu stellen und die Sache zur Anzeige zu bringen.

Die alte Dame hatte aus meiner Sicht nichts bei Gericht verloren. Zum einen, weil sie in dieser offenbar schwer gereizten Situation nun wirklich nichts schlimmes getan hatte (welcher Version man auch immer folgt) und zum anderen, da sie geistig und körperlich (Schwerhörigkeit) einem Verfahren überhaupt nicht folgen konnte. Daher beantragte ich folgerichtig, ihr einen Verteidiger zur Seite zu stellen, nämlich mich. Abgelehnt – so eine Bagatelle könne man auch selbst verhandeln. Auch dann, wenn man fast nix hört oder ansonsten eher sehr einfach gestrickt ist. Und Beamtenbeleidigung kann das Amtsgericht auch nicht durchgehen lassen, egal, wie unvorbestraft die Angeklagte, wie subjektiv gespannt die Situation oder wie harmlos der Vorwurf auch ist. Verurteilung zu 30 Tagessätzen Geldstrafe!

Harmlos hin oder her – wir gehen in Berufung. Die Landrichterin hatte schon im Vorgespräch vor der Hauptverhandlung Zweifel an der Notwendigkeit einer Verurteilung geäußert – ich äußerte zudem Zweifel daran, sie ohne Anwalt da stehen zu lassen. Die Verhandlung begann mit einer Zusammenfassung der Vorsitzenden Richterin über das, was bisher geschah. „Haben Sie das verstanden, Frau R?“ Keine Antwort. „Frau R, haben Sie das soweit verstanden?“ – „HÄÄÄH?“ – und die Richterin guckt in Richtung der Staatsanwaltschaft, danach in meine Richtung und danach zum Protokollführer. Ordnet mich zum Pflichtverteidiger bei und nach einer weiteren, halbminütigen Diskussion wird dieses Verfahren eingestellt.

Und so bleibt wieder eine mutmaßlich schlimme ehrverletzende Handlung ungesühnt.