Wieder aus dem Urlaub zurück, geht es wieder los mit der täglichen Konfrontation mit der Strafjustiz. Eines der wesentlichen Errungenschaften des Rechtsstaats ist es, dass man Urteile durch andere, „höhere“ Gerichte überprüfen lassen kann. Dafür gibt es im Strafrecht die Rechtsmittel der Berufung und Revision. Damit diese Möglichkeit auch ein Recht und kein Risiko ist, steht im Gesetz (§ 331 StPO) drin, dass ein Urteil nicht schlimmer ausfallen darf, wenn man sich dagegen beschwert. Ansonsten müsste man befürchten, dass die neuen Richter das Urteil noch verschärfen und würde eher keinen Gebrauch von Berufung und Revision machen.
Allerdings ist dieses System nicht so ganz ausgereift. Denn die StPO kennt im wesentlichen drei Ausnahmen von diesem Grundsatz, die faktisch doch dazu führen können, Angst vor einer Berufung beim Verurteilten auszulösen:
1. Die erste Ausnahme ist die, dass auch die Staatsanwaltschaft Berufung (oder Revision) gegen dieses Urteil einlegt. Auch der Staat hat das Recht, sich gegen ein Urteil zu beschweren. Das tut die Staatsanwaltschaft relativ selten, wenngleich ich in den letzten Monaten zumindest bei meiner Heimatstaatsanwaltschaft eine Tendenz entdecke, dass diese Quote wieder ansteigt. Meistens stecken Anweisungen von oben dahinter, denn die Staatsanwaltschaft ist streng hierarchisch organisiert und jede/r Staatsanwalt/Staatsanwältin muss das tun, was der/die Vorgesetzte will. Wenn oben beschlossen wird, bestimmte Urteilshöhen nicht zu akzeptieren, dann muss unten Berufung eingelegt werden, so sinnlos das im Einzelfall auch sein mag. Aber so sind sie halt… Ein „Recht auf Erpressung“ gibt diese Möglichkeit der Staatsanwaltschaft allerdings auch. Wenn sie verhindern will, dass ein aus ihrer Sicht an sich richtiges Urteil auch so bleibt, legt sie einfach selber Berufung ein und übt somit Druck auf den Angeklagten aus, seine eigene Berufung zu überdenken, denn das Urteil könnte theoretisch schlimmer werden. Es gibt Fälle, bei denen man den Eindruck hat, dass solche Berufungen der Staatsanwaltschaft „auf Bestellung“ durch den erstinstanzlichen Richter eingelegt werden, der sein Urteil vor einer Überprüfung schützen will. Aber das lässt sich selbstredend nicht untermauern.
2. Aber auch, wenn man allein Berufung einlegte, gibt es Möglichkeiten, Druck auf den Angeklagten auszuüben, damit dieser seine Berufung möglichst nicht durchführt. Zum Beispiel bei Haftstrafen, die zur Bewährung ausgesetzt wurden. Zwar darf das höhere Gericht die Strafe nicht erhöhen oder gar die Bewährungschance streichen. Das Gericht darf allerdings die neben dieser Strafe bestehende Bewährungsauflage verschärfen. Und wenn ein Gericht keine übermäßige Lust auf Verhandlung einer Sache hat, rückt es gleich zu Beginn mit dieser Möglichkeit raus und droht an, zusätzlich zur Strafe eine schicke Zahlungs- oder Arbeitsauflage aufzuerlegen. So mancher schmeißt bei dieser Drohung das Handtuch und das Gericht hat gewonnen.
3. Besonders perfide und folgenreich ist die sogar im Absatz 2 des § 331 StPO stehende Möglichkeit, neben der Strafe noch sogenannte „Maßregeln“ zusätzlich aufzuerlegen. Das sind einerseits die Unterbringung in der Psychiatrie oder in einer Zwangstherapie. Letzteres kommt nicht gerade selten vor. Bei Straftaten, die aufgrund von Alkohol- oder Drogenmißbrauch begangen worden sein sollen, kann ein Berufungsrichter genau mit der Anordnung einer solchen, von den Angeklagten oftmals gefürchteten Zwangstherapien drohen. Ein überaus häufig genutztes Mittel, um sich einer Berufungsverhandlung zu entledigen. Viele der Angeklagten fürchten diese Zwangstherapie – gar nicht so sehr wegen des eigentlichen Krankenhausaufenthalts, der mitunter „angenehmer“ sein kann als die Zeit in einem maroden Knast, vor allem aber wegen des ungewissen Zeitfaktors. Denn wie lange man in so einem Krankenhaus verlottert, weiß man nie. Dies dauert so lange, bis ein Arzt der Auffassung ist, die Therapie sei erfolgreich oder bis die Höchstdauer (das sind zwei Jahre plus Zweidrittel der daneben verhängten Strafe) erreicht sind. Das ist ganz schön lange. Darum wissen die Richter und nutzen es in der Berufungsinstanz überaus häufig. Man kann also in solchen Fällen fast nur versuchen, dass zu diesem Zweck zwingend einzuholende, meist zunächst schriftlich vorliegende Sachverständigengutachten und dessen Ergebnis abzuwarten. Ist es negativ und droht realistisch eine Unterbringung, dann muss man selber handeln und nicht zur Berufungsverhandlung erscheinen oder die Berufung zurücknehmen.
Man sieht, dass das Recht auf Berufung im Strafrecht nicht so ganz ohne ist. Auch der Staat kämpft so ganz legal um seine Urteile. Die Verteidiger müssen somit Obacht walten lassen, damit man mit seinem gut gemeinten Rechtsmittel keine Steine erntet.