Der Tag, der sein Leben verändern sollte, begann früh und ungewöhnlich. In den Morgenstunden klingelte unvermittelt der polizeiliche Verhaftungstrupp an der Tür. Aufgemacht und flugs verhaftet. Aus heiterem Himmel ändert sich alles, denn noch in der Wohnung erfährt er, dass er sich mehrfach an der Tochter seiner Freundin vergangen haben soll. Völlig irritiert setzt er sich in das Polizeifahrzeug, das ihn zunächst in die Zelle verbringt, bevor er dann nach einigen Stunden des Schmorens und einer Vernehmung der Haftrichterin vorgeführt werden soll. Stunden in der Haftzelle, die völlig irreal sind. Offenbar hat die Stieftochter, gerade einmal elf Jahre alt, Dinge über ihn behauptet, die er weit, weit von sich weist. Mein Bauchgefühl, der hoffentlich halbwegs funktionierende Seismograph für Wahrheitserkennung (selbstredend genau so wenig ausgereift wie derjenige der Richterschaft) sagt mir, es könnte Hand und Fuss haben, was der Mandant zu seiner Verteidigung vorbringt. Wie er das Kind schildert, die Beziehung zwischen den Dreien, die schwierige Situation, in der man sich kennenlernte. Aber was hilft es jetzt? In der Akte ist ein Vernehmungsvermerk der das Kind vernehmenden Polizeibeamtin, die ebenfalls ihr Bauchgefühl aufgeschrieben hat: „Das Kind erscheint glaubhaft.“ Das reicht für den Haftbefehl. Zum Glück gelingt es uns unter dem heiligen Versprechen, dass der Mandant keinen Kontakt zu Kind und Familie sucht, den Haftbefehl außer Vollzug setzen zu lassen – der Mandant kommt also erst einmal frei, wenngleich unter Beobachtung und schlimmer: unter dem schlimmen Verdacht, dem Kind etwas angetan zu haben.
In der Folgezeit arbeiten wir zusammen alles auf. Wie hat sich die Beziehung zur Mutter des Kindes entwickelt, welche Auffälligkeiten gab es in der Entwicklung des Kindes. Gab es tatsächlich Situationen, auf die sich das Kind bezieht? Sind Dinge frei erfunden oder bewusst sexualisiert übersteigert dargestellt? Wie war das Verhältnis zur Stieftochter? Während wir an der Entwicklung arbeiteten, sah man einen verängstigten, jungen Mann, der seinerseits nun selber psychologischer Hilfe bedurfte. Seine Mutter spricht über seine Suizidgedanken. Die Mühlen der Justiz arbeiteten gegen ihn, die Gerüchte wurden von der „anderen Seite“ fortgetragen, so dass das Leben eben nicht mehr dasselbe war. Die Gewissheit, dass er mehrere Jahre hinter Gittern wandern würde, wenn das Bauchgefühl der Richter, die über diesen Fall zu entscheiden haben, dem Kind glaubt. In einer Zeit, in der Personen, die nur unter einem solchen Verdacht stehen, gerne dämonisiert werden.
Wir lieferten schon im Ermittlungsverfahren, um die Sache möglichst nicht zur Anklage und damit zum nächsten Schritt in den Abgrund kommen zu lassen. Alles, was wir zusammengetragen hatten, wurde der Staatsanwaltschaft präsentiert unter Hinweis darauf, dass die Angaben des Kindes doch zumindest erheblich in Zweifel zu ziehen sind und dem Antrag, eben im Zweifel ein aussagepsychologisches Gutachten über die Angaben des Kindes einzuholen. Spätestens in einer Hauptverhandlung müsste ein solches Gutachten ohnehin eingeholt werden, denn jedes Kind hat andere, individuelle Fähigkeiten, Erlebtes aufzufassen und wiederzugeben oder auch einzuordnen. Im Prinzip gilt dies meiner bescheidenen Auffassung auch für die Angaben von Erwachsenen, allerdings sind der BGH und die anderen Gerichte der Auffassung, dies bei Erwachsenen selbst bewerten zu können, während man bei Kindern auf die Hilfe von geschulten Kinder- und Jugendpsychologen zurückgreift. Ich halte diese Unterscheidung letztlich nicht für konsequent – die juristische Ausbildung lehrt eben genau dies nicht. Fertige Juristen, egal ob Richter, Staatsanwälte oder Rechtsanwälte lernen in ihrer Regelausbildung nicht, wie man der Wahrheit am nächsten kommt oder wie man Aussageanalyse betreibt. Learning by doing, das ist der Maßstab in der an sich wichtigsten Disziplin, wenn man einen Streit entscheiden will: Wer sagt die Wahrheit und wer lügt?
Auch der Staatsanwalt war der Auffassung, dass er selbst entscheiden könne, wer hier die Wahrheit gesagt hat. Ohne auch nur eine beteiligte Person persönlich angehört zu haben, klagte er den Mandanten wegen sexuellen Mißbrauchs an. Ein weiterer Schlag in den Magen für den Mandanten.
Nach der Anklageerhebung gelang es uns zum Glück bei dem Richter für die Einholung des aussagepsychologischen Gutachtens zu werben. Und so wanderte die Akte zur Psychologin, die sich viel Zeit für das Kind nahm. Es dauerte nochmal drei Monate, bis das Gutachten letztlich auch auf meinem Tisch landete. Die Gutachterin attestierte dem Kind im Ergebnis eine übertriebene Phantasie und einen Hang, Geschehnisse sexualisiert darzustellen. Sie hatte an der Darstellung des Kindes nicht lediglich Zweifel – aus dem Gutachten ging hervor, dass das Kind aus Sicht der Psychologin glasklar gelogen hatte. Die Anklage wurde von dem Gericht natürlich nicht zur Hauptverhandlung zugelassen, nach rund einem Jahr wurde schließlich auch der Haftbefehl aufgehoben. Der Mandant konnte -juristisch- wieder aufatmen; die Beziehung zu Freundin, Stiefkind sowie deren Umfeld war und ist für immer zerstört.