Bevor ein Mensch von einem unabhängigen Gericht nach einer durchgeführten Beweisaufnahme nicht einer Tat für schuldig befunden wurde, gilt dieser Mensch nach rechtsstaatlichen Grundsätzen als unschuldig. Eine Erkenntnis, die zum kleinen Ein-mal-Eins des Rechtsstaats gehört. Gut, im alltäglichen juristischen Leben machen Gerichte und Staatsanwaltschaften von dieser Regel bisweilen großzügig Ausnahmen, indem der Begriff der sogenannten Fluchtgefahr bis zum Bersten ausgedehnt wird, um somit Haftbefehle gegen noch nicht verurteilte Menschen zu begründen und diese somit auch schon vor einer Verurteilung inhaftieren zu können (manchmal stecken natürlich auch andere Ziele dahinter). Aber zumindest offiziell gilt die Unschuldsvermutung, bis in einem geordneten Verfahren, in dem auch der Beschuldigte das Recht hat, sich ausführlich zur Sache darzustellen, das Recht hat, Beweise zu seiner Unschuld erheben zu lassen und schließlich auch das Recht hat, selbst im Geständnisfalle Dinge geltend zu machen, die sein gesetzwidriges Tun möglicherweise sehr nachvollziehbar machen. Vielleicht sehen die Dinge dann am Ende des Tages völlig anders aus, als es zunächst bei grober Betrachtung der Dinge scheint. Vielleicht. Aber die Erkenntnis dieses „Vielleicht“ und die Möglichkeit seiner Behauptung ist eine Errungenschaft von Aufklärung und Rechtsstaat.
Was aber, wenn jemand eines in der Dimension schwer vorstellbar schweren Delikts verdächtig wird, aber selbst bereits tot ist? Wenn erschütternde Erkenntnisse vorgebracht werden, die diesen Menschen einer Tat schwer belasten? Wenn die Folgen dieser ihm vorgeworfenen Tat ungeheuerlich sind? Die Antwort muss lauten: Dann gilt das selbe. In juristischer Sicht ist diese Person unschuldig ohne Wenn und Aber. Denn sie konnte sich nicht rechtfertigen. Vielleicht gab es eine Missinterpretation. Ein nicht offen zu Tage tretender Aspekt. Vielleicht eine in der Persönlichkeit liegende physische oder psychische Begründung, die die intellektuelle Steuerungsfähigkeit in dieser Situation ausgeschaltet hat. Vielleicht etwas völlig anderes. Vielleicht.
Der Co-Pilot des abgestürzten Germanwings-Fluges kann sich zu der ihm vorgeworfenen Tat nicht mehr äußern. Das mag sein eigenes Verschulden sein. Vieles spricht 48 Stunden nach dem Vorfall dafür. Nach den Erkenntnissen der Ermittler habe er schwere Schuld auf sich geladen. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht ist es nur ein mikroskopisch kleines „Vielleicht“. Und dennoch gebietet es die Rechtsstaatlichkeit bis zuletzt, ihn als juristisch unschuldig zu betrachten. Der Tod auch dieses Menschen bringt mit sich, dass er sich nicht mehr rechtfertigen kann. Es kann sein, dass es überhaupt nichts zu rechtfertigen gibt. Aber trotzdem darf die Unschuldsvermutung nicht auf der Strecke bleiben. Trotz unendlich vieler zu beklagender Opfer. Gerade wegen dieser bedauerlich hohen Zahl.
Ich habe in vielen Fällen und auf beiden Seiten beraten, vertreten und verteidigt, in denen Angehörige von Verstorbenen oder schwer Verletzten beteiligt waren. Hier kam oft der eindringliche Wunsch zum Ausdruck, dass die Justiz einen Schuldigen für das persönlich unfassbare Schicksal benennt und überführt. Für diese Personen ist es dann noch einmal besonders schwer, wenn die Justiz das nicht gewährleisten kann, sei es, weil es für einen Unglücksfall schlicht keinen Schuldigen gibt, sondern unglückliche Ereignisse zu schlimmen Folgen führten, sei es, weil die Ermittler sich verrannt und sich auf einen Unschuldigen konzentriert haben, sei es, weil die vermeintlich schuldige Person selbst verstorben ist. Jedem Hinterbliebenen ist von Herzen zu wünschen, den Verlust von Angehörigen so gut es irgend geht, mit der Zeit zu verarbeiten und mit diesem Verlust weiterzuleben. Der Wunsch nach Hilfe durch die Justiz ist verständlich. In der Vielzahl solcher Fälle werden Schuldige ermittelt und verurteilt – es verbleiben aber Fälle, in denen es nicht gelingt oder nicht gelingen kann.
So nachvollziehbar dies für Betroffene ist, so wenig nachvollziehbar ist es, wenn die Boulevardmedien, allen voran die Bildzeitung ohne Beachtung jeglicher Unschuldsvermutung einen vermeintlich Schuldigen an den Pranger stellt. Mit voller Namensnennung, Mitteilung der Lebensgeschichte, Abdruck privater Fotos auf Seite 1 und der Verknüpfung all dessen mit der eben nicht in Frage gestellten Schuld dieser Person. Die „geheime Krankenakte“ wird gegen Zutritt in ein kostenpflichtiges Portal beworben. Intimste Details in die Millionenöffentlichkeit getragen. Mit voller Wucht. Und mit voller Wucht in das Gesicht der Angehörigen dieser verstorbenen Person. Für diese Medien ist es völlig egal, ob sich die Ermittlungsergebnisse irgendwann doch noch einmal ändern. Auch wenn dies im Augenblick unwahrscheinlich erscheinen mag. Das Leben der Angehörigen dieses Mannes ist nun binnen weniger Tage ein weiteres Mal zerstört worden. Für ne gute Auflage. Bar jeder Verantwortung.
Eigentlich hat die Aufklärung seinerzeit die Unschuldsvermutung durchgesetzt. Eigentlich hat die Aufklärung in Westeuropa auch den Pranger abgeschafft. Nicht alle vermeintlich ge-bild-eten Menschen sind mental aus dem Mittelalter heraus. Das ist freilich keine neue Erkenntnis. Sie ist dennoch immer wieder erschütternd.